«Weibliche Autorität» 
Mona Seitz, Juli 2021

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Das Thema weibliche Autorität beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Ich wurde in eine patriarchalische Familie geboren. Mein Vater hatte oft das letzte Wort und die Definitionsmacht in unserer Familie. Als Kind fragte ich mich immer, warum das so war. Ich wollte gefragt und miteinbezogen sein, doch dies geschah nach meiner Wahrnehmung kaum. Als hochsensitives Kind konnte ich Gedankenzusammen-hänge und dahinter liegende Gefühle schnell erkennen und kombinieren und weigerte mich, bestimmte Entscheidungen anzunehmen, insbesondere, wenn „Machtmissbrauch“ aus meiner Sicht dahintersteckte. Ich war ein neugieriges, wildes, starkes, emotionales, kämpferisches Mädchen und entsprach dem damaligen gesellschaftlichen Rollenbild, wie Mädchen sich zu verhalten hatten, nicht. So fühlte ich mich schnell unfrei und traurig, nicht so sein zu dürfen, wie ich bin, und es führte bei mir zu physischer und emotionaler Abhängigkeit.

Ich fragte mich immer wieder, warum Frauen gesellschaftlich und in meiner Familie nicht als gleichwertige Wesen mit denselben Rechten und Pflichten gesegnet waren. So wollte ich wie meine beiden älteren Brüder am Esstisch mitreden und mitdiskutieren, doch meine Argumente waren allesamt zu emotional oder in ihren Gedankengängen zu komplex, als dass sie ernst genommen worden wären. Dadurch entwickelte ich eine kämpferische Energie, weil ich es einfach nicht akzeptieren wollte, nicht gehört zu werden.
Ein tiefer Schmerz der Benachteiligung setzte sich in mir fest, der mich durch Höhen und Tiefen in meinem Leben begleitete und mir letztlich die Motivation nährte, mein Potential zu entwickeln.

Als ich mit 20 Jahren nach Italien auswanderte und dort eine Schauspielausbildung absolvierte, arbeitete ich nebenbei in diversen italienischen Firmen und lernte dabei die autoritäre Hierarchie im Organisationswesen kennen. Teambildung und Zusammenarbeit waren kein Thema. Es herrschte vorwiegend Konkurrenz unter den Teammitgliedern, egal ob zwischen Frauen oder Männern. Die Vorgesetzten waren fast alles Männer, die weniger durch ihr Können an die Führung gelangt waren als durch „Vitamin B“. Das Arbeiten unter diesen Rahmenbedingungen war nervenaufreibend und emotional stressig.

In meiner Schauspielausbildung machte ich jedoch eine wunderbare Entdeckung. Zum ersten Mal konnte ich die Aufmerksamkeit von vielen Menschen auf mich ziehen und wurde gehört. Durch Präsenztraining und Stimmbildung wurde die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was ich sagte. Ich wurde gehört ohne großen Energieaufwand.

Früher hatte ich versucht, diese Aufmerksamkeit in Gruppen immer durch gute Argumentation und kämpferische Energie auf mich zu ziehen, was nicht funktion-ierte. Im Gegenteil, es führte oft zum Ausschluss in Gruppen.

Mit 29 Jahren wurde ich Mutter. Die Ehe mit dem Vater meiner Kinder hielt 6 Jahre. Als wir uns trennten, waren meine Tochter 2 und mein Sohn 5 Jahre alt. Die Trennung war wohl meine größte Lebenskrise. Sie löste jedoch das Beste in meinem Leben aus, nämlich, dass ich als Frau auf mich allein gestellt war und meine Kinder meist allein erziehen musste. Ich musste materiell und emotional unabhängig werden, und ich durfte oft selber entscheiden, was mir ein Gefühl der Freiheit verlieh. Meine Tochter, im Wesen mir ähnlich, war in ihrer Trotzphase eine große Herausforderung für mich. Argumentieren nützte nichts, und sie nahm sofort wahr, wenn ich in meiner Autorität nicht authentisch war. Sie war meine beste Lehrerin. Um ihr Sicherheit zu geben, musste ich mit mir im Reinen sein. Sie spürte jede emotionale Inkongruenz und weigerte sich, meine Begrenzungen zu akzeptieren, wenn sie meine Präsenz nicht spürte. Auch im Jugendalter der beiden Kinder war ich als alleinerziehende Mutter besonders gefordert, meine Wertvorstellungen mit Sicherheit und Präsenz zu vertreten und den Jugendlichen einen Verhandlungsraum zu gewähren. Es gab keinen Partner an meiner Seite, der mir den Rücken hätte stärken können. Ich musste eine Haltung erlernen, die mit mir im Einklang, authentisch, auf guten Argumenten basierend, einbeziehend und präsent war, um Sicherheit, Klarheit und Leitplanken zu geben, damit meine Kinder mich als „Familienoberhaupt“ wahrnehmen konnten. Ich war gefordert, aus meiner Rolle als Behüterin und Fürsorgerin in die Rolle der Führenden zu treten.

Beim Tangotanzen konnte ich erfahren, was Führen und Folgen wirklich bedeutet. Vorher lag meinem Verständnis davon ein Modell des Befehlens und Gehorchens zugrunde, das jedoch nichts damit zu tun hat. Im Tango konnte ich erfahren, dass es um gemeinsame Improvisation geht, durch die ein Dialog entsteht. Der (oder die) Führende beginnt und der (oder die) Folgende reagiert. Wer führt, ist verantwortlich für die gemeinsame Bewegung und gibt der anderen Person genügend Informationen, damit sie folgen kann. Beim Führen geht es darum, eine Richtung zu geben, Sicherheit und Vertrauen zu schenken. Die Rolle der (oder des) Folgenden im Tango ist es, die vorgeschlagene Richtung zu spüren und dorthin ohne Zögern mit Vertrauen zu gehen. Folgen ist nicht einfach die Reaktion auf einen Vorschlag, sondern es geht darum, die eigene Bewegung auszuführen, sich selbst und die eigene Musikalität und Energie innerhalb eines vorgegebenen Musters vollständig auszudrücken und die eigene Note miteinfließen zu lassen. Sobald die Folgende die Richtung und Geschwindigkeit des Führenden mit Vertrauen aufnimmt, führt sie das Paar an, einfach dadurch, dass sie sich bewegt, während der Führende ihr folgt, um die Verbindung aufrecht zu erhalten. Es entsteht ein Dialog der Verbindung, die durch Präsenz unterstützt wird. Dies zu erkennen, war ein großes Aha-Erlebnis in meinem Leben. Ich entschied mich, dem meine volle Aufmerksamkeit zu schenken und daraus mein Potential zu entwickeln: Frauen in Führungsrollen darin zu unterstützen, ihrer Wesensart entsprechend zu führen.

Meine Erfahrungen hatten mir gezeigt, dass Frauen nicht die Eigenschaften des autoritären Führens übernehmen müssen, um sich als Führungskraft auch gegenüber Männern durchzusetzen. Sie brauchen nicht auf eine Veränderung der strukturellen Bedingungen in der Gesellschaft zu warten, um den Raum des Führens, der Autorität einzunehmen.

Sie können gelingend führen auf eine Art, die ihrem Wesen entspricht, die ihre eigenen hemmenden Grenzen überwindet. Damit leisten sie aktiv einen bedeutenden Beitrag in unserer Gesellschaft, nämlich den des Ausgleichs, der Teilhabe, des Friedens, des ethischen Gleichgewichts, der Mitwirkung und der Beziehung untereinander etc.